Bisher mussten sich insbesondere Reizdarm-Betroffene vom Verstopfungstyp (RDS-O bzw. IBS-C) in Geduld üben. Denn während für den Durchfalltyp (RDS-D) inzwischen gleich mehrere evidenz-basierte natürliche Behandlungsoptionen bereitstehen (einige davon sogar mit dem Potenzial zur Heilung der Erkrankung), sind wirklich effektive Therapieansätze zum Lösen der Verstopfung leider Mangelware. In "Dein Reizdarm IST heilbar!" gehe ich auf die relevanten Forschungsarbeiten zu diesem Thema ein (Intestinal Methanogen Overgrowth Syndrome, Ballaststoffreduktion etc.), doch sind viele Betroffene leider immer noch gezwungen, auf die verfügbaren Medikamente wie Linaclotid oder Lubiproston zurückzugreifen. Wie alle pharmakologischen Interventionen gehen letztere allerdings mit unerwünschten Nebenwirkungen einher und sind in Deutschland nicht ganz leicht zu bekommen. Außerdem sollten Sie unbedingt wissen, dass diese Medikamente lediglich symptomatisch wirken. Diese lindern also Ihre Beschwerden, ändern aber rein gar nichts an den Ursachen Ihrer Verstopfung (Black et al.,2019).
Umso mehr freut es mich, dass in letzter Zeit immer mehr Interventionsstudien natürliche Behandlungsansätze zur Linderung der chronischen Verstopfung erproben und damit auch sehr erfolgreich sind!
In den nächsten Wochen und Monaten möchte ich an dieser Stelle eine Auswahl dieser wissenschaftlichen Experimente vorstellen, um den Inhalt meines Buches systematisch mit Informationen für Patienten mit einem Reizdarm vom Verstopfungstyp zu ergänzen.
Beginnen möchte ich heute mit einer chinesischen Studie, welche den Einfluss von täglichen Übungseinheiten des bewussten Atmens auf die Motilität (Darmbewegungen, Stuhltransport) und die viszerale Hypersensitivität (Bauchschmerzen) untersuchte. In meinem Blogartikel werden Sie genau erfahren, was Sie tun müssen, um ähnlich beeindruckende Erfolge zu erzielen, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie!
Verstopfung und Autonomes Nervensystem
Eine ursächliche und damit effektive Behandlung des Reizdarmsyndroms vom Verstopfungstyp muss - Trommelwirbel - an den Ursachen dieser Erkrankung wirken. Für den Obstipationstyp sind inzwischen folgende Krankheitsmechanismen gut belegt (z.B. Holtmann et al.,2016):
- Störungen des Autonomen bzw. Vegetativen Nervensystems
- viszerale Hypersensitivität (herabgesetzte Reiz-/Schmerzschwelle im Darm)
- Intestinale mikrobielle Überwucherung (v.a. Methan freisetzender Bakterien)
- (Mikro-)Entzündungen im Darmtrakt
Machen Sie sich mit dem ersten Punkt dieser Auflistung näher vertraut, werden Sie in der Literatur erfahren, dass die chronische Verstopfung mit einem gesteigerten Sympathikotonus und einem gestörten Nervus vagus assoziiert ist (Liu et al.,2022).
Das Vegetative Nervensystem (Sympathikus und Parasympathikus) kann zwar nicht willkürlich von Ihnen gesteuert, aber sehr wohl durch verschiedene Methoden nachhaltig beeinflusst werden. Die langsame und bewusste Tiefenatmung gehört hierbei zu den simpelsten, aber auch effektivsten Methoden (Jafari et al.,2017).
Atemtraining im Labor gegen Verstopfung
Durch die Verknüpfung der oben dargestellten Erkenntnisse entwickelten die chinesischen Wissenschaftler die Hypothese, dass ein entsprechend gestaltetes Atemtraining die Symptome der Verstopfung signifikant lindern könnte (Liu et al.,2022).
Die Teilnehmer mit einem Reizdarmsyndrom vom Verstopfungstyp
Die Wissenschaftler rekrutierten 90 Patienten mit einem Reizdarmsyndrom vom Verstopfungstyp. Letztere hatten ihre Diagnose von einem erfahrenen Gastroenterologen auf der Grundlage der ROM-IV-Kriterien und der gängigen Differentialdiagnostik erhalten. Die Patienten durften aktuell weder Medikamente nehmen, noch Diäten befolgen, welche ihre Verstopfung beeinflussen könnten.
Im Durchschnitt waren die Patienten 46 Jahre alt und litten seit etwa drei Jahren unter den Beschwerden der chronischen Verstopfung. Ihre Stuhlfrequenz lag bei einem Toilettengang pro Woche, der Grad auf der Bristol-Stuhlformen-Skala 1,6. Der Schweregrad des Reizdarmsyndroms lag auf der Grenze zwischen moderat und stark ausgeprägt.
Das Protokoll: Atemtraining und Rektal-Ballon-Katheter
Die RDS-Probanden wurden nun per Zufall entweder der Interventionsgruppe mit einer spezifischen Atemtechnik oder aber einer Kontrollgruppe zugeordnet. Vor Beginn der Intervention sowie nach drei und sechs Wochen wurde jeweils ein breites Arsenal an Untersuchungen durchgeführt. Dazu gehörten:
- validierte Fragebogen wie der IBS-Symptom-Severity-Score, die Bristol-Stuhlformen-Skala und natürlich auch die Erfassung der Darmentleerung
- Elektrokardiogramme zur Bestimmung der Herzratenvariabilität, um den Zustand des Vegetativen Nervensystems abschätzen und den Sympathikotonus errechnen zu können
- Hochauflösende anorektale Manometrie zur Bestimmung des Schließmuskeldrucks; mittels eines Ballons wurde der Zeitpunkt der ersten Reizwahrnehmung, der Beginn des Stuhldrangs und die Toleranzschwelle bestimmt
Vor dem Beginn der Atem-Intervention zeigten sich bezüglich aller genannten Testverfahren keinerlei signifikante Unterschiede.
Die Ergebnisse: Bewusste Tiefenatmung lindert Verstopfung signifikant
Betrachten wir den Reizdarm-Schweregradscore (IBS-SSS), der alle relevanten Reizdarm-Symptome erfasst, sehen wir in der Atemtherapie-Gruppe nach sechs Wochen eine starke signifikante Verbesserung von 290 auf 195 Punkte, was annähernd einer Kategorienverschiebung hin zu einem milden Reizdarmsyndrom entspricht. Hierbei waren alle Kategorien von der Linderung betroffen, von der Frequenz und Intensität der Bauchschmerzen bis hin zur Zufriedenheit mit den Stuhlgewohnheiten.
Zur Einordnung dieser Zahlen sei angemerkt, dass in den meisten Studien mit Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln bereits eine Verbesserung um 50 Punkte als Erfolg gewertet wird. In der Kontrollgruppe stieg der Schweregrad hingegen von 287 auf 319.
Doch wie sah es mit den objektiveren Merkmalen aus? Die Stuhlfrequenz erhöhte sich ausschließlich in der Interventionsgruppe auf 2,2 Toilettengänge pro Woche, die Stuhlkonsistenz verbesserte sich ebenfalls signifikant auf 2,2 auf der Bristol-Stuhlformen-Skala.
Ergebnisse 2: Tiefenatmung verbessert die rektale (Hyper-)Sensitivität
Was die Schmerzempfindlichkeit der Probanden anbelangt, so wirkte sich die genutzte Atemtechnik ebenfalls überaus positiv aus. Nach sechs Wochen des intensiven Übens hatten sich in der Atemgruppe sowohl die Schwelle der ersten Reizwahrnehmung als auch die maximale Toleranzgrenze verbessert. In einfachem Deutsch: Der Darm der Patienten war deutlich resistenter gegenüber Reizen geworden und der Inhalt wurde nicht mehr so schnell als schmerzhaft wahrgenommen.
Wie lassen sich diese Ergebnisse erklären?
Eine simple, für jeden anwendbare Atemtechnik ganz ohne Nebenwirkungen verbessert also die Symptome der Verstopfung signifikant und dazu durchaus vergleichbar mit häufig eingesetzten pharmakologischen Wirkstoffen. Doch was genau verleiht dieser Atemtechnik eine solche Macht über unseren Darm?
Eine mögliche Antwort auf diese Frage könnte eine weitere Beobachtung der chinesischen Forscher liefern: Die tägliche Tiefenatmung sorgte nämlich für eine signifikante Steigerung der Aktivität des Vagusnervs. Diese Anregung des parasympathischen Teils des Vegetativen Nervensystems, welcher mit der Regeneration des Organismus und der Bildung von Reserven in Zusammenhang steht, liefert ein effektives Gegengewicht zur beim Reizdarmsyndrom überaktivierten Sympathikus.
So atmen Sie sich frei von Bauchschmerzen und Verstopfung!
Die in der vorgestellten Untersuchung angewandte Atemtechnik ist enorm simpel. Sie hat außerdem den großen Vorteil, dass sie kosten- und nebenwirkungsfrei ist und von allen Betroffenen an nahezu jedem Ort durchgeführt werden kann, ganz unabhängig von seinen körperlichen Voraussetzungen. Auch in meinem Buch empfehle ich im Rahmen des Abschnittes über Reizdarm-Yoga genau dieses Atemprotokoll, um den Parasympathikus anzuregen.
Die Wissenschaftler forderten ihre Probanden dazu auf, das Atemtraining an mindestens fünf Tagen pro Woche für jeweils 30 Minuten zu praktizieren. Innerhalb einer Minute sollten insgesamt sechs volle Atemzyklen vollzogen werden. Die Einatmung sollte dabei bewusst tief in den Bauch erfolgen, bis sich der Brustkorb noch einmal deutlich hebt. Neben der forcierten tiefen Einatmung ist besonders das richtige Verhältnis von Ein- und Ausatmung wichtig, welches in dieser Studie 2:3 betrug. Ihr Einatmen sollte also 4 Sekunden andauern, während Ihr Ausatmen 6 Sekunden in Anspruch nehmen sollte. Um eine verlangsamte Ausatmung zu erreichen, könnten Sie bspw. eine "Lippenbremse" formen, indem Sie zwischen Ober- und Unterlippe nur einen kleinen Spalt lassen. Hier noch einmal ganz konkret:
- Sorgen Sie für eine entspannte Atmosphäre und dafür, dass Sie für eine halbe Stunde ungestört sind.
- Legen Sie sich mit dem Rücken auf eine bequeme Unterlage (evtl. Decke nicht vergessen) oder setzen Sie sich im Fersensitz auf ein Yoga-Kissen etc.
- Atmen Sie durch die Nase tief ein, bis sich Ihr Bauch rundet und anschließend der Brustkorb noch einmal hebt. Zählen Sie dabei in Gedanken "21-22-23-24".
- Ohne Pause lenken Sie den Atem um und lassen die Luft durch den Mund gegen die Lippenbremse entweichen. Im Gegensatz zum Einatmen ist dies kein aktiver Prozess. Entspannen Sie einfach Ihre Muskulatur und Ihr Körper kümmert sich um den Rest! Zählen Sie währenddessen in Gedanken "21-22-23-24-25-26".
- Wiederholen Sie die Schritte 3 und 4 bis Sie 20 bis 30 Minuten erreicht haben.
Je nach Persönlichkeitstyp oder Gemütslage können Sie das Training mit dem Praktizieren von Achtsamkeitsmeditation intensivieren bzw. durch das Abspielen entspannender Musik etwas kurzweiliger gestalten.
Letztendlich gilt für das Atmen - wie für jede andere evidenz-basierte natürliche Intervention - helfen kann es nur, wenn Sie es regelmäßig praktizieren!
Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg und freue mich auf Ihre Berichte. Bis zum nächsten Mal!
Ihr Thomas Struppe
Bildquellenverzeichnis
Abb1+Abb2
Liu J, Lv C, Wang W, Huang Y, Wang B, Tian J, Sun C, Yu Y. Slow, deep breathing intervention improved symptoms and altered rectal sensitivity in patients with constipation-predominant irritable bowel syndrome. Front Neurosci. 2022 Nov 4;16:1034547. doi: 10.3389/fnins.2022.1034547. PMID: 36408402; PMCID: PMC9673479.
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