Was tun wir uns und unseren Kindern eigentlich an?

Fast meine ganze Arbeit rund um die chronischen Darmerkrankungen basiert auf der Hypothese, dass diese Krankheiten heute nahezu pandemieartig auftreten, weil sich der Mensch als Individuum und Art zu weit von seinen biologischen Bedürfnissen entfernt hat. Würde es sich bei uns um Zootiere handeln, könnte man sagen, dass wir nicht besonders artgerecht gehalten werden. Mit dieser Annahme befinde ich mich in bester Gesellschaft, denn zahlreiche internationale Wissenschaftler vertreten einen ganz ähnlichen Standpunkt (siehe für eine Auswahl Buscail et al.,2017Gwee,2005; Kim & Ban,2005; Siah et al.,2016). 

 

Herausgestellt werden von den Forschergruppen in diesem Zusammenhang insbesondere die folgenden Assoziationen, welche chronische Darmerkrankungen begünstigen:

  • eine westliche Ernährungsweise (reich an Omega-6- und Trans-Fetten sowie Zucker, ballaststoffarm, überkalorisch - aber arm an Vitaminen und Mineralien, mit zahlreichen proentzündlichen synthetischen Zusatzstoffen)
  • Medikamente wie Antibiotika
  • fehlender frühkindlicher Kontakt mit protektiven Mikroorganismen aus der Erde, von Tieren usw. ("Hygiene-Hypothese")
  • fehlende Bewegung 
  • stressbehafteter Lebensstil und mangelnde Regeneration (Schlafhygiene etc.)

Hierbei ist es im Übrigen durchaus zu vernachlässigen, ob wir spezifisch über das Reizdarmsyndrom, die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa oder idiopathische Stuhlunregelmäßigkeiten sprechen, da diese Erkrankungen pathophysiologisch mehr eint als trennt (Spiller & Major,2016). Alle genannten Krankheiten liegen auf einem Kontinuum und sind u.a. durch (Mikro-)Entzündungen, mikrobielle Verschiebungen, Immunaktivierung und eine gestörte Darmbarriere charakterisiert. 

Dass es sich bei den chronischen Darmerkrankungen tatsächlich um "menschengemachte" Leiden handelt, können Sie leicht daran erkennen, dass diese uns Menschen keineswegs schon seit jeher begleiten. Stattdessen traten sie erstmals mit den technischen Umwälzungen (u.a. in der Lebensmittelverarbeitung) der Industriellen Revolution auf (siehe etwa Kaplan & Windsor,2021). Länder der maximal-industrialisierten westlichen Welt führen die Rangliste mit den häufigsten chronischen Darmerkrankungen noch mit gebührlichem Abstand an. Doch erst kürzlich industrialisierte Regionen und auch Entwicklungsländer haben sich durch die rasant ausgreifende Globalisierung längst auf eine unheilvolle Aufholjagd begeben.

 

Abb1: Inzidenz (orange) und Prävalenz (blau) chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen im Zeitverlauf. Beachten Sie insbesondere den Zeitrahmen von 1750 bis 1950. Quelle: Kaplan & Windsor,2021.
Abb1: Inzidenz (orange) und Prävalenz (blau) chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen im Zeitverlauf. Beachten Sie insbesondere den Zeitrahmen von 1750 bis 1950. Quelle: Kaplan & Windsor,2021.

Mehr als die Hälfte aller chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wäre vermeidbar gewesen!

Manchmal wird meine Einordnung der chronischen Darmerkrankungen als Zivilisationserkrankungen der westlichen Welt dahingehend falsch interpretiert, wir Bewohner der Industrienationen und in erster Linie natürlich wir Betroffenen, hätten keinen Einfluss auf die historischen Entwicklungen mehr und seien der steigenden Prävalenz damit hilflos ausgeliefert. Mitnichten!

Es handelt sich bei den Auswirkungen unserer Umwelt und unserer individuellen Verhaltensweisen keineswegs um "vergossene Milch". Denn obwohl es tatsächlich begünstigende Faktoren für die chronischen Darmerkrankungen gibt, über die wir keine Kontrolle haben (z.B. Kaiserschnitt, Stillzeit, pränatale Belastungen der Mutter, frühkindliche Antibiosen etc.), so liegt ein Großteil der Verantwortung eben doch bei mir und Ihnen ganz persönlich

 

So errechnete erst kürzlich wieder eine Studie anhand der Langzeitdaten von über 500.000 Probanden, dass ein gesünderer Lebensstil sage und schreibe bis zu 60 Prozent der Crohn- und 56 Prozent der Colitis-Erkrankungen hätte verhindern können (Lopes et al.,2022). 

 

Lassen Sie sich das ruhig noch einmal auf der Zunge zergehen: Über die Hälfte der Betroffenen von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa müssten diese Erkrankungen, mit all ihren unschönen Konsequenzen (Medikamente, Operationen, Krankenhausaufenthalte, Komorbiditäten etc.) nicht erdulden. Und ähnliches gilt auch für das Reizdarmsyndrom (die Auswirkungen verschiedener Lebensstilfaktoren beschreibe ich aus ausführlich in meinem Buch anhand zahlloser wissenschaftlicher Quellen). 

 

Obwohl die oben zitierten Zahlen bereits an sich sehr besorgniserregend sind, sollte angemerkt werden, dass die von den Forschern berücksichtigten Variablen keinesfalls erschöpfend waren. 

Folgende Merkmale/Verhaltensweisen flossen in die Datenanalyse ein: 

  1. Körpergewicht/BMI
  2. Rauchen
  3. körperliche Aktivität
  4. Gemüse- und Obst
  5. Fleischkonsum
  6. Ballaststoffanteil
  7. Verzehr von Fisch/Meeresfrüchten
  8. Nüsse
  9. Alkoholgenuss

Als regelmäßiger Leser meines Blogs haben Sie mit Sicherheit sogleich die Kernelemente der von mir empfohlenen mediterranen Ernährungsform herausgelesen? Gut so!  

Doch handelt es sich bei den aufgeführten Faktoren schon beinahe um so etwas wie Allgemeinwissen. Inzwischen konnten internationale Forscherteams viele andere Variablen etablieren, welche die Entstehung chronischer Darmerkrankungen begünstigen. Im Folgenden nur einige wenige Beispiele: 

  1. stark zuckerhaltige Getränke (Fu et al.,2022
  2. Schlafhygiene bzw. zirkadiane Rhythmik (Liu et al.,2017
  3. Glyphosat (Barnett & Gibson,2020)
  4. künstliche Farb-, Geschmacks- und Konservierungsstoffe (Raoul et al.,2022)
  5. und so könnte ich noch lange weitermachen ...

Ich glaube, Sie können mir ohne Bedenken zustimmen, wenn ich behaupte, dass die Prozentangaben vermeidbarer chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen noch überwältigender ausgefallen wären, hätten die Forscher weitere modifizierbare Risikofaktoren in ihre Datenanalyse einbezogen. 

 

Eine Frage der Schuld?

Häufig reagieren meine Klientinnen und Klienten reserviert oder sogar abweisend, wenn ich ihnen diese Zusammenhänge darlege. Vor allem trifft das auf jene unter ihnen mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa zu. Sie selbst sollen mitverantwortlich für ihre Erkrankung sein? Unmöglich! Beim Reizdarmsyndrom ist das ja noch denkbar, aber bei einer manifesten Autoimmunerkrankung? Und doch ... 

Manche Klienten und Leser fühlen sich durch meine Aussagen derart auf den Schlips getreten, dass sie einfach nicht mehr wiederkommen. Doch bei den allermeisten nimmt die Empörung nach einem ausreichend langen Zeitraum der Reflexion wieder ab.

 

Die unangenehm zu verdauende Wahrheit ist einfach, dass es sich bei der überwiegenden Mehrheit der Autoimmun-, Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen um vermeidbare Übel handelt (Isbit,2018). 

 

Nun wurden Sie und ich als Individuen natürlich in eine Welt hineingeboren, in der einige der oben genannten Risikofaktoren, gerade für Heranwachsende und junge Erwachsene, beinahe schon zum guten Ton gehören: Tanzen bis spät in die Nacht bei Wodka-Cola, Energy-Drinks beim X-Box daddeln, ununterbrochenes Sitzen in Hörsaal oder Büro, der Besuch im Fast-Food-"Restaurant", der "Süßigkeiten-Schieber" an unzähligen Arbeitsplätzen und in zahllosen Kinderzimmern. 

Entlassen uns diese vorgefundenen, durch die Kultur der westlichen Moderne geformten, Lebensbedingungen aus der individuellen Verantwortung für unseren Körper, unsere Gesundheit? 

 

Wer trägt also die Schuld an der Entstehung einer solchen, eigentlich vermeidbaren Erkrankung? Ist es die Gesellschaft, die durch ihre Codes und Normen Verhaltensweisen begünstigt, die zur Pathogenese beitragen? Sind es Experten wie Ärzte und Ernährungsberater, die ihrer Rolle als Mahner nicht in ausreichendem Maße nachkommen? Oder sind es sogar wir Betroffenen selbst? 

 

"Ich habe doch nur das gemacht, was alle meine Freunde auch taten und von denen ist schließlich auch keiner krank geworden", ist eine typische Antwort meiner Klienten auf meine kritischen Fragen zu ihrem Lebensstil.

Leider ist das menschliche Gehirn für diese Art einer komplexen Analyse nicht besonders gut ausgestattet. Im Zusammenhang mit den Zivilisationserkrankungen operieren wir nun einmal in erster Linie mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen unter dem Schirm individueller genetischer Prädispositionen. Natürlich gibt es Menschen, die exzessiv dem "western lifestyle" frönen und dabei kerngesund sind (zumindest jetzt noch). Doch Menschen mit einer anderen genetischen Ausstattung oder in anderen Lebensumständen (chronischer Stress, Infektionen, Umweltbedingungen) können durch die gleichen Verhaltensweise massiv Schaden nehmen.

 

Die Angst vor der Wahrheit

Dass die Frage nach der Verantwortung so gern auf externe Personen (Ärzte, Eltern usw.), abstrakte Faktoren ("die Gene") oder die Gesellschaft per se abgewälzt wird, hat meiner Beobachtung nach auch viel damit zu tun, dass die Mediziner ihren Patienten keine harten Wahrheiten mehr zumuten wollen. Bei manchen Erkrankungen geht dies so weit, dass man beinahe den Eindruck bekommen könnte, es handele sich bei diesen um normale Begleiterscheinungen des Alterns und nicht um die Folgen eines ungünstigen persönlichen Lebensstils (Paradebeispiel: Diabetes mellitus II).

 

Auch der Reizdarm ist ein klassisches Beispiel für diese Sichtweise: 15 Millionen Menschen leiden allein im deutschsprachigen Raum unter Durchfällen, Blähungen, chronischen Bauchschmerzen und Verstopfung. Seit Jahren steigen die Neudiagnosen vor allem unter Heranwachsenden sprunghaft an (siehe bspw. Barmer-Report,2019).

Die Reaktion des deutschen Gesundheitssystems? Nicht etwa hinterfragt es die erwiesenermaßen schädlichen Verhaltensweisen und steuert diese gezielt durch individuelle Anreize (keine Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse, Nüsse, Fisch; kostenfreier Zugang zu Sportvereinen für Heranwachsende etc.), Sanktionen (Zuckersteuer, Verbot nachweislich krankheitsbegünstigender Zusatzstoffe, Pestizide usw.) und eine wirkliche Aufklärung der Bevölkerung. Stattdessen besteht die Antwort fast ausschließlich im Verweis auf die pharmakologische Forschung und bereits vorhandene Medikamente. Herumdoktern an den Symptomen anstatt Behandlung der Ursachen. Die persönliche Verantwortung bleibt in der Regel gänzlich außen vor. 

 

Der Patient wird zum passiven Objekt degradiert. Und das allerschlimmste: Oft fühlt er sich wohl mit dieser Rolle und richtet sich gemütlich darin ein. Sollen sich doch andere um meine Probleme kümmern ... 

 

Eigenverantwortung stärken, Wohlbefinden zurückerobern!

Über mögliche Motive hinter diesem sehr einseitigen Vorgehen möchte ich mich nicht weiter auslassen. Vielleicht liegen diese ebenfalls in der Neigung der Moderne, persönliche Verantwortlichkeiten durch kollektive Schuldzuweisungen zu ersetzen.

Sie sollten jedenfalls nicht allzu stark darauf bauen, dass sich die Haltung unserer Gesellschaft und insbesondere der Entscheider im Bereich der Gesundheitspolitik in naher Zukunft radikal ändern wird. 

 

Was ich Ihnen jedoch versprechen kann, ist, dass eine gestärkte Eigenverantwortung zu einer langfristigen Linderung Ihrer Beschwerden führen wird. Denn die Annahme der Erkenntnis, dass auch Sie selbst zu Ihrer Erkrankung beigetragen haben (und ich selbstverständlich zu meiner) impliziert in einem weiteren Gedankenschritt auch, dass Sie auch die Macht haben, verschiedene Krankheitsvariablen durch die Wahl des richtigen ("artgerechten") Lebensstils positiv zu beeinflussen! Sie brauchen dafür weder einen Arzt, noch die Zustimmung der modernen Gesellschaft. Sie allein halten die Zügel in der Hand! (bis zu einem bestimmten Grad - Gene, fortgeschrittene Pathologie etc.)

 

Inzwischen ist es, durch ein gewaltiges Maß an wissenschaftlicher Evidenz belegt, ein unumstößlicher Fakt: 

 

Ein gesunder Lebensstil, geprägt durch ausgewogene Ernährung, Schlaf- und Psychohygiene, körperliche Aktivität und weitere Faktoren, lindert die Beschwerden von chronischen Darmerkrankungen bis hin zur Heilung (siehe etwa Chiba,2018Kang et al.,2011; Langhorst et al.,2016Okawa,2022; Zia et al.,2016).

 

Uns diese persönliche Verantwortung (nicht Schuld) einzugestehen und dann auch zu übernehmen ist unsere Pflicht uns selbst, den von uns geliebten Mitmenschen und der Gesellschaft gegenüber (für welche wir mitunter erhebliche Kosten erzeugen, die sich durch einfache persönliche Schritte deutlich vermindern ließen).

 

Doch selbst hinter diesem schmerzhaften Eingeständnis verbirgt sich noch eine weitere Ebene ... 

 

Wir müssen unsere Kinder schützen!

Um ehrlich zu sein, bricht es mir manchmal fast das Herz. Regelmäßig bekomme ich Mails von besorgten Eltern, deren Kinder unter erheblichen Verdauungsstörungen oder eben bereits ausgeprägten chronischen Darmerkrankungen leiden. Mir werden dann oft Erfahrungen beschrieben, die kleine Mädchen und Jungen sowie besorgte Eltern einfach nicht machen sollten. Ich möchte hier gar nicht zu detailliert werden, aber natürlich haben diese Geschichten mit Ernährungssonden, Darmspiegelungen, Operationen und anderen unschönen Aspekten dieser Erkrankungen zu tun, die Sie und ich nur allzu gut kennen.

 

Das alles triggert mich umso mehr, da wir, was die Gesundheit betrifft (zumindest in unseren Regionen dieser Erde) eigentlich in einer ziemlich genialen Welt leben könnten. Die Kindersterblichkeit ist niedrig, Infektionserkrankungen lassen sich weitestgehend vermeiden oder aber gut behandeln, die Unfallchirurgie ist exzellent ... 

Dennoch gelingt es uns nicht, unseren Wohlstand in geordnete Bahnen zu lenken und einem Missbrauch von Medikamenten, Vergnügungen, Lebensmitteln etc. zu widerstehen. Wir produzieren dadurch die Kranken von morgen und auch unermessliches Leid

 

60 Prozent der Patienten mit Morbus Crohn =  160.000 Fälle in Deutschland

56 Prozent der Patienten mit Colitis = 207.00 Fälle in Deutschland

 

Eine Studie aus dem Jahr 2022 erwartet dreimal so viele Neuerkrankungen unter Kindern für das Jahr 2030 (Kern et al.,2022). 

 

Gerade als Eltern haben wir unzählige Möglichkeiten, den Kurs dieser Zivilisationserkrankungen zu verändern. Die dafür notwendigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sind längst vorhanden. Lassen Sie uns mit gutem Vorbild vorangehen, um Neuerkrankungen so gut wie möglich zu verhindern und unseren Kindern außerdem zu zeigen, dass auch eine eigene Diagnose den Menschen nicht aus der Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber entlässt! 

 

Sie haben noch keine Idee, wo Sie anfangen könnten?

Auch im nächsten Artikel auf dem Blog werden wir uns wieder mit dem darmgesunden Lebensstil beschäftigen! Wussten Sie, dass zyklische kurze Fastenphasen die Entzündungen einer Colitis lindern und sogar vernarbtes Gewebe regenerieren können? Seien Sie gespannt! 

Abbildungsverzeichnis

Abb1

Kaplan GG, Windsor JW. The four epidemiological stages in the global evolution of inflammatory bowel disease. Nat Rev Gastroenterol Hepatol. 2021 Jan;18(1):56-66. doi: 10.1038/s41575-020-00360-x. Epub 2020 Oct 8. PMID: 33033392; PMCID: PMC7542092.

 

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